Die Guillotine von Rheinland-Pfalz

Die unvollendete Guillotine von Rheinland-Pfalz

Der 11. Mai 1949 schloss in Rheinland-Pfalz eine technische, politische und administrative Unternehmung ab, die dem Zweck diente, Menschen zu töten: Die neue Guillotine in der Haftanstalt Mainz war einsatzbereit. Raum 27, frisch gekalkt, mit Abflussrinnen im Boden, war als Hinrichtungsstätte eingerichtet. Das Fallbeil war montiert, ein Ersatzmesser lag bereit, der Scharfrichter stand unter Vertrag.

Die noch junge Landesverfassung von Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 stellte das Leben zwar unter den Schutz des Artikels 3 – „Das Leben des Menschen ist unantastbar“ – schränkte ihn aber im selben Atemzug ein: Es könne „auf Grund des Gesetzes als Strafe für schwerste Verbrechen gegen Leib und Leben durch richterliches Urteil verwirkt erklärt werden“. Zwei Sätze im juristischen Spagat – und ein demonstratives Bekenntnis, das rechtlich eigentlich überflüssig war.

Denn nach geltender Rechtslage – § 211 Reichsstrafgesetzbuch – war Mord ohnehin weiter mit dem Tode zu bestrafen. Das galt in allen Ländern der Westzonen. Anders als die übrigen neugegründeten Länder verzichteten Rheinland-Pfalz und Hessen jedoch nicht auf eine ausdrückliche Normierung der Todesstrafe in ihren Landesverfassungen. In den ersten Nachkriegsjahren war dieser verfassungsrechtliche Spielraum noch voll vorhanden und wurde genutzt.

Adolf Süsterhenn, erster rheinland-pfälzischer Justizminister von 1946 bis 1951 und geistiger Vater der Landesverfassung, war ein entschiedener Befürworter der Todesstrafe. Er trat noch lange nach ihrer Abschaffung für deren Wiedereinführung ein. Er soll die Todesstrafe „quasi über Nacht und von Hand“ in den Entwurf der Verfassung geschrieben haben. Dem potenziellen Mörder, der in jeder Volksgemeinschaft lebe, müsse klar gemacht werden, dass er mit der Tat das Risiko eingehe, dass auch sein Leben durch die Strafjustiz vernichtet wird.

Süsterhenn war mit seiner Haltung nicht allein. In einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Februar 1949 sprachen sich 74 Prozent der Befragten für die Todesstrafe aus. Erst Ende der 1960er Jahre kippte die öffentliche Meinung langsam zugunsten einer generellen Abschaffung. Bis dahin galt die Todesstrafe in weiten Teilen der Gesellschaft als selbstverständlicher Bestandteil einer gerechten Strafordnung.

Die Todesstrafe sollte im jungen Rheinland-Pfalz nicht bloß im Gesetz stehen – sie sollte auch vollstreckt werden. Als erste und einzige Frau unter insgesamt acht zwischen 1946 und 1949 in Rheinland-Pfalz zum Tode Verurteilten war Irmgard K. vorgesehen.

Irmgard S., später verheiratete K., wurde am 27. Juni 1920 im saarländischen Quierschied geboren. Sie stammte aus Verhältnissen, die man seinerzeit als „asozial“ bezeichnete. Der Vater, mehrfach vorbestraft wegen Sexualdelikten, galt als gewalttätig. Die Mutter soll eine „arme aber gute Frau“ gewesen sein, Irmgard selbst ein lustiges Mädchen. Mit achtzehn verließ sie das Elternhaus, arbeitete in einem Ausflugslokal am Deutschen Eck in Koblenz als Kellnerin. Dort lernte sie Josef K. kennen, einen Wehrpflichtigen aus Bad Neuenahr. Die beiden heirateten 1939 gegen den Widerstand seiner Familie. Als das erste Kind unterwegs war, wurde Josef eingezogen. 1943 fiel er an der Ostfront. Die zwischenzeitlich aufgrund gestreuter Gerüchte über ihr „ehewidriges Verhalten“ betriebene Scheidung wurde nach seinem Tod wirksam – Irmgard galt nun als „schuldig geschiedene“ Ehefrau, mittellos und ohne Rentenanspruch.

Nach dem Krieg lebte sie mit ihren beiden Kindern, dem fünfjährigen Günther und der 19 Monate alten Karin, in einem kleinen Haus in Bad Neuenahr. Das Geld reichte kaum für das Nötigste. Heizmaterial war knapp, Lebensmittelkarten waren unzureichend. Sie schrieb mehrfach an ihre Schwiegereltern und bat um alte Kleidung für die Kinder sowie um Stoffreste und Nähgarn. In einem Brief fragte sie, ob sie die Hosen ihres gefallenen Mannes behalten dürfe, um sie für den Sohn umzunähen.

Im November 1945 verschwanden die Kinder. Wenige Tage später wurden ihre Leichen erdrosselt im Keller des Hauses gefunden. Irmgard K. war zu ihren Eltern geflohen. Der Vater zeigte sie an. Am 1. Dezember 1945 wurde sie festgenommen und vernommen. Sie gestand, sprach von Not, Angst, Aussichtslosigkeit.
 

„grobklotzig, kalt und stumpf“


Das psychiatrische Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt Andernach vom 10. Februar 1947 beschrieb sie als „grobklotzig, kalt und stumpf“, diagnostizierte eine „ethisch-defekte“ Persönlichkeitsstruktur und beurteilte sie als voll schuldfähig. Eine Auseinandersetzung mit sozialer Not, psychischer Überforderung oder traumatischen Erfahrungen fand nicht statt.

Am 21. April 1947 erhob die Staatsanwaltschaft Koblenz Anklage wegen Mordes in zwei Fällen. Der Prozess begann am 27. Juni. Der Vorsitzende Richter sprach von „erblichen Belastungen“ und wollte „dem grausamen Spiel bald ein Ende setzen“, der Staatsanwalt verwies auf ihren „liederlichen Lebenswandel“ und bemühte das „Empfinden des Volkes“. Während einer Verhandlungspause versuchte Irmgard K., sich das Leben zu nehmen.

Am 14. Juli 1947, nach nur vier Verhandlungstagen, wurde Irmgard K. zum Tode verurteilt – im Namen des Volkes.

Am 19. Juli 1947 legte ihr Pflichtverteidiger Revision ein und stellte ein Gnadengesuch. Da die Begründung der Revision ausblieb, wurde sie als unzulässig verworfen. Das Urteil wurde am 5. November 1947 rechtskräftig. Das Gnadengesuch wurde durch den Ministerrat am 19. März 1948 abgelehnt. Die französische Militärregierung bestätigte diese Entscheidung am 15. Oktober 1948.

Noch im Herbst 1948 war unklar, wie das Land Rheinland-Pfalz die rechtskräftig verhängte Todesstrafe vollstrecken sollte. Zwar hatte die französische Militärregierung grundsätzlich die Anwendung eines Fallbeils genehmigt, doch verfügte das Land über keinerlei Richtstätte, kein Gerät, keinen Henker. Es musste also schnell gehandelt werden.

Nachdem am 6. Dezember 1948 Hans-Christoph Seebohm die Mitglieder des Parlamentarischen Rats mit einem Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe im zu erarbeitenden Grundgesetz überrascht hatte, wuchsen sich die Bemühungen um die Vollstreckung in Rheinland-Pfalz zu einem Wettlauf mit der Verfassung aus.

Das Justizministerium in Koblenz wandte sich zunächst an andere Bundesländer: Düsseldorf, Hamburg, Köln und Hannover wurden kontaktiert. Man erkundigte sich nach vorhandenen Guillotinen und der Möglichkeit, diese zu entleihen, nach Scharfrichtern, nach Erfahrungen. Nachdem die Antworten ernüchternd ausfielen, entschied Adolf Süsterhenn sich zum Aufbau einer eigenen Hinrichtungsstätte in Mainz. Die dortige Haftanstalt wies geeignete Kellerräume auf. Die Zellen 26 und 27 verfügten über Abflüsse, vergitterte Fenster sowie Platz für das Richtgerät und Särge. Die Umbaukosten wurden mit 800 DM veranschlagt.

Auch ein Scharfrichter wurde gefunden: Die Bewerbung eines erfahrenen Metzgers des Mainzer Schlachthofs blieb unberücksichtigt. Die Wahl fiel stattdessen auf Friedrich Hehr aus Hannover, der bereits im Dritten Reich in mehreren zentralen Hinrichtungsstätten tätig gewesen war, unter anderem noch 1937 mit der Schinderhannes-Guillotine in Mainz, die jedoch hiernach endgültig demontiert wurde. Die Konditionen des Scharfrichters orientierten sich an den Sätzen der NS-Zeit: 3.000 DM Jahresgehalt, 60 Mark pro Vollstreckung.

Mit der Herstellung der Guillotine wurde die Firma Tiggemann in Hamm (Westfalen) beauftragt. Das Gestell ließ sich binnen Wochen anfertigen, wurde im Januar 1949 als Bausatz angeliefert und im Keller der Haftanstalt aufgebaut. Schwieriger gestaltete sich die Beschaffung des Messers. Zahlreiche Betriebe lehnten ab. Erst Wochen später konnte unter einer Sonderzuteilung Eisen ein Schmied in Wuppertal verpflichtet werden, der das Messer schließlich am 21. März 1949 lieferte.

Im April 1949 erhielt das Zuchthaus in Diez die Anweisung, Irmgard K. unverzüglich zur Hinrichtung nach Mainz überführen zu lassen. Eine Vollzugsbeamtin meldete zurück, man sehe sich außerstande, die Todeskandidatin abzutransportieren – es fehle ein ausbruchssicherer Lastkraftwagen.

Kurz darauf, am 8. Mai 1949, wurde das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat verabschiedet. Artikel 102 lautet: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Von den 65 Abgeordneten hatten 35 für die Abschaffung gestimmt, 30 dagegen.
 

„Die Einrichtung ist betriebsfertig.“

 
Drei Tage später vermerkte das Justizministerium in Koblenz: „Die Einrichtung ist betriebsfertig.“ Zu diesem Zeitpunkt war das Grundgesetz noch nicht in Kraft getreten. Dies erfolgte erst am 24. Mai 1949. Dass Irmgard K. trotz aller vorherigen Bemühungen nicht mehr hingerichtet wurde, ist nicht allein auf den Zeitdruck zurückzuführen. Bereits im Januar 1949 hatte ihre neue Verteidigerin einen Antrag auf Wiederaufnahme gestellt. Sie behauptete, ein französischer Soldat habe die Kinder in der Tatnacht getötet. Die Darstellung war wenig überzeugend. Der Antrag wurde im Jahr 1950 verworfen, hatte aber vorläufig zur Folge, dass das Landgericht Koblenz am 24. Januar 1949 die Aussetzung der Vollstreckung anordnete. Auch die französische Militärregierung wies am 22. März 1949 das Justizministerium an, die Vollstreckung aufzuschieben.

Irmgard K.s Todesstrafe wurde in eine lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt. Später wurde sie begnadigt und am 30. Juli 1970 entlassen. Sie zog nach Niedersachsen, heiratete erneut, lebte unerkannt. Ein Bewährungshelfer beschrieb sie als unauffällig und angepasst. Irgendwann, inzwischen über siebzig Jahre alt, soll sie Zeichen einer Altersdemenz entwickelt haben. Nachbarn erinnern sich später, dass sie immer nach ihren Kindern rief – obwohl sie nie Kinder gehabt habe, wie alle dachten. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in einem Pflegeheim, wo sie im Jahr 2000 verstarb.

Die Guillotine verblieb zunächst in der Mainzer Anstalt, wurde später im Polizeipräsidium ausgestellt, dann ins Landesmuseum Koblenz überführt. Heute befindet sie sich als Dauerleihgabe im Magazin des Hauses der Geschichte in Bonn. Sie wurde nie eingesetzt.

Am 15. März 1991 – fast 42 Jahre später – wurde die Todesstrafe aus der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz gestrichen. Noch mehr Zeit ließ sich Hessen: Bis 2018 existierte in der dortigen Verfassung ein Artikel, der die Verhängung der Todesstrafe vorsah.

 

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