Lombroso und der geborene Verbrecher

Menschlicher Schädel

An einem dunklen, kalten Dezembermorgen des Jahres 1870 untersuchte Cesare Lombroso – 35 Jahre alt, Arzt und Dozent an der Universität Pavia – den Schädel eines Toten namens Giuseppe Villella, eines verurteilten Straftäters, gestorben sechs Jahre zuvor im Gefängnis. Er entdeckte eine Vertiefung in der mittleren Hinterhauptsgrube und mit einem Mal, so schrieb er später, sei ihm alles klar geworden: „In jenem Augenblick, als ich in Villellas Schädel jene Vertiefung entdeckte, sah ich – wie durch eine plötzliche Erleuchtung – das Wesen und den Ursprung des Verbrechens.“

Man könnte meinen, dies sei der Anfang eines grotesken Romans. Es war aber vielmehr der reale Beginn einer Wissenschaft. Zumindest dem, was man im 19. Jahrhundert dafür hielt.

Was Lombroso da entdeckt hatte, ist aus heutiger Sicht ausgesprochen unspektakulär: Die kleine Einbuchtung am unteren Rand des Schädels, nahe dem Übergang zum Nacken, trägt den anatomischen Namen fossa occipitalis mediana. Bei manchen Menschen ist dort eine kleine Delle, bei anderen eine tiefere Grube – und bei vielen einfach gar nichts. Was Lombroso für das Relikt eines wilden Tieres hielt, hat keinen Krankheitswert und verursacht keine Symptome. In der modernen Anatomie gilt sie als harmlose Variante der Knochenausbildung – ein epigenetisches Detail, so unspektakulär wie ein Grübchen am Kinn. Kein Hinweis auf irgendetwas. Lombroso aber deutete die Vertiefung als tierische Spur im Menschen – als Beleg für eine Rückentwicklung zu niederen Entwicklungsstadien. Es war die Initialzündung seiner Theorie vom „geborenen Verbrecher“.

Dabei war Lombroso nicht der Erste, der versuchte, die inneren Eigenschaften eines Menschen an seiner äußeren Gestalt abzulesen. Schon Aristoteles glaubte, an der Stirnform den Charakter zu erkennen. Im Mittelalter suchte man bei Hexen nach Muttermalen – als „Teufelszeichen“. Doch Lombroso radikalisierte das Prinzip. Für ihn war das Verbrechen spätestens seit dem Moment seiner „Erleuchtung“ keine moralische Verirrung mehr. Verbrecher waren anders – und zwar von Geburt an.

Dieser Theorie widmete er sein wissenschaftliches Wirken: Er sammelte Schädel, vermaß Nasen, dokumentierte Kieferwinkel. Bald füllte sich sein Kabinett mit über 700 Schädeln. Der Schädel Villellas stand auf seinem Schreibtisch, als Talisman oder Trophäe.

In seinem zentralen Werk „L’uomo delinquente“ listete Lombroso Merkmale auf, die auf den geborenen Verbrecher hindeuten: Körperhaarwuchs, kleines Schädelvolumen, fliehende Stirn, starke Stirnhöcker, dicke Schädelknochen, große Ohren, dunkle Haut, dicke Lippen, lange Arme, Zahnlücken oder auch ein „lemurisches Anhängsel“ – also ein ausgeprägtes Steißbein – konnten verdächtig machen.
 

Neben geborenen Verbrechern existierten für Lombroso zwei weitere Typen von Kriminellen: Geisteskranke und Kriminaloide


Neben geborenen Verbrechern existierten für Lombroso zwei weitere Typen von Kriminellen: Geisteskranke und „Kriminaloide“ – Letztere waren eine Art Sammelbecken für solche, die durch Alkohol oder schlechte Gesellschaft verroht seien.

Lombrosos Theorie traf den Nerv einer Zeit, die von rasanter Urbanisierung, wachsender Kriminalitätsangst und einem neuen Vertrauen in die Macht der Wissenschaft geprägt war. Seine Thesen befriedigten ein Bedürfnis – das Bedürfnis, dem Gegenüber an der Nasenspitze anzusehen, was er für ein Mensch ist. Sein Modell vom Verbrechen als biologischer Determination versprach Ordnung – und Entlastung. Wenn der Verbrecher als solcher geboren ist, dann ist die Gesellschaft entlastet von Schuld und Pflicht zur Reform.

Lombrosos Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Seine Theorien fanden Widerhall in Polizeibehörden, Gerichten und Universitäten. Die Pariser Polizei entwickelte ab 1883 das Bertillon-System – eine Mischung aus Fotografie, Anthropometrie und Klassifikation.

Früh regte sich aber auch Kritik: Léonce Manouvrier, Gabriel Tarde, Paul Topinard oder Hans Kurella warfen ihm mangelnde Methodik, selektive Wahrnehmung und Rassismus vor. Tatsächlich berief er sich gern auf „wilde Rassen“, „primitive Völker“ und kombinierte ethnische Vorurteile mit evolutionärem Vokabular. Der italienische Strafrechtler und Sozialist Enrico Ferri, sein bekanntester Schüler, versuchte die Theorie immerhin zu entschärfen. Auch Franz von Liszt, Begründer der modernen Kriminalpolitik in Deutschland, wandte sich früh gegen die „biologistische Monokausalität“ in Lombrosos Lehre.

Lombroso verteidigte seine Lehren in zunehmend gereiztem Ton. In der Vorrede zur dritten Auflage von L’uomo delinquente zeigte er sich dünnhäutig und in trotzigem Ton. Er warf seinen Kritikern vor, seine bisherigen Arbeiten überhaupt nicht vollständig gelesen zu haben. „Wer die ersten Auflagen gelesen hat, wird sich überzeugt haben, dass viele der Merkmale, welche bei Wilden und bei farbigen Rassen auftreten, sehr häufig auch bei geborenen Verbrechern zu finden sind.“ Wer ihm vorwerfe, den Verbrecher – „wie ein geweihtes Opfer“ – seinem Schicksal auszuliefern, hätte selbst nichts als die alten Strafen zu bieten: Kerker, Deportation, Überwachung – Instrumente, „die die Wunde nicht heilten, sondern sie vergrößerten“.
 

Betrachtet wird alles, was sich am weiblichen Körper vermessen lässt: Vom Schädel über die Zähne bis hin zu den Schamlippen


Im Jahr 1893 erscheint Lombrosos wissenschaftliche Betrachtung krimineller Frauen, La donna delinquente, la prostituta e la donna normale, verfasst gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Guglielmo Ferrero. Eine Art Kompendium weiblicher Abweichung. Betrachtet wird alles, was sich am weiblichen Körper vermessen lässt: Vom Schädel über die Zähne bis hin zu den Schamlippen. Eines der bemerkenswertesten Merkmale, das Lombroso dabei aufführt, ist der sogenannte „piede prensile“, der greifende Fuß – ein anatomisches Überbleibsel, wie man es bei Affen finde, den primitiven Vorläufern des Menschen.

Bei normalen Frauen sei dieser greifende Fuß dreimal so häufig wie bei Männern zu finden. Doch bei Prostituierten sei er noch einmal deutlich verbreiteter – fast doppelt so häufig. Dafür fehle bei Prostituierten typischerweise die Stirnfalte, die Plattköpfigkeit, die Hypertrophie der inneren Schamlippen, die übermäßige Ausprägung der Kiefer und der Jochbeine, und vor allem die Anomalien der Zähne. Kurz: Es seien bei Prostituierten weniger Anomalien vorhanden, die zur Hässlichkeit beitragen als solche, die Degeneration anzeigen, aber das Gesicht nicht entstellen. Giftmischerinnen, Mörderinnen und Diebinnen wiesen hingegen das Maximum an Schädelasymmetrie und Schielen auf, Mörderinnen zeigten am häufigsten männliche und mongolischer Physiognomie, Totschlägerinnen und Giftmischerinnen vor allem Schädelvertiefungen und Zahnlücken, zusammen mit den Brandstifterinnen am häufigsten eingedrückte und deformierte Nasen. Den Prototyp aller Kainsmale – das Muttermal – machte Lombroso ebenfalls überdurchschnittlich bei Prostituierten aus.

Es ist eine der hübschesten Widerlegungen seiner Theorien, fast zu gut, um wahr zu sein und möglicherweise auch nur eine – wenn auch verbreitete – Anekdote: Lombroso erhält für die Arbeit an dem Werk über kriminelle Frauen von der Pariser Polizei eine Serie von Fotografien vermeintlicher weiblicher Delinquentinnen. Er analysiert sie und findet breite Kiefer, tiefliegende Augen, plumpe Züge. Sein Urteil: prototypisch verbrecherisch. Was er nicht weiß: Es handelt sich um harmlose Pariser Marktfrauen, die Fotos waren verwechselt worden.

Man könnte sich die Frage stellen, ob Cesare Lombroso jemals in den Spiegel geschaut hat. Von ihm sind verschiedene Fotografien überliefert. Es liegt schon fast zu nahe, diese durch die eigene wissenschaftliche Brille des Abgebildeten zu betrachten: Die Bilder zeigen einen Mann mit starrem Blick, leicht fliehender Stirn, starkem Kiefer und etwas abstehenden Ohren. In der Logik seines Systems wären diese Befunde kaum interpretierbar, sondern recht eindeutig. Der Mann auf den Bildern trägt mehrere morphologische Stigmata, die in L’uomo delinquente aufgezählt werden.
 

„Wer zahlreiche Anomalien körperlicher oder moralischer Art aufweist, ist eines verbrecherischen Hangs zu verdächtigen.“


„Chi porta numerose anomalie, tanto fisiche quanto morali, deve essere sospettato di inclinazioni delittuose.“ („Wer zahlreiche Anomalien körperlicher oder moralischer Art aufweist, ist eines verbrecherischen Hangs zu verdächtigen.“) Voilà! Nach seiner eigenen Typologie wäre Cesare Lombroso wohl zumindest in den Verdachtsbereich eines Kriminaloiden gefallen.

Es ist freilich einfach, Lombroso mit dem Abstand von über einem Jahrhundert im Rückspiegel als Karikatur oder Scharlatan zu betrachten. Aber wer sich über ihn empört, denkt bereits im Sinne einer Wissenschaft, die er mitbegründet hat. Cesare Lombroso versuchte, indem er Schädel vermaß und Muttermale zählte, die Ursachen von Kriminalität zu verstehen und damit die Gesellschaft zu verbessern. Das Problem ist nur, dass dieser wissenschaftliche Anspruch aus heutiger Sicht zwischen Lächerlichkeit und Grauen schwankt. Lombrosos Typologien wurden von den nationalsozialistischen Rassenhygienikern bei der Sortierung von Menschen in wertvoll und wertlos bereitwillig aufgegriffen. Lombrosos Einfluss war enorm und ist zugleich ein Lehrstück über die Verführungskraft des vermeintlich Messbaren.

Leben und Werk von Cesare Lombroso stecken so voller Widersprüche, dass man Mühe hat, sie in eine eindeutige Schublade zu stecken. Er war Jude und erklärter Gegner des Antisemitismus – und wurde doch mit seinen Ideen zu einem unfreiwilligen Wegbereiter jener rassistischen Denkmodelle, die später in der NS-Rassenlehre ihren perfidesten Ausdruck fanden. In seinem Werk finden sich Passagen, in denen er Menschen aus Afrika und Süditalien offen als „rückständig“, „degeneriert“ oder „halb-tierisch“ beschreibt.

Gleichzeitig war Lombroso erklärter Sozialist, verurteilte die Todesstrafe und beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie Kriminalität verhindert und nicht nur bestraft werden könne. Doch ausgerechnet er erklärte oft die Schwächsten – Arme, Analphabeten, Bauern – zu geborenen Trägern des Verbrechens.

Als Wissenschaftler war Lombroso unermüdlich, ja geradezu besessen. Er vermaß Hunderte von Schädeln. Akribisch und mit gewaltigem Datenhunger. Doch sein methodischer Zugang war selbst für seine Zeit unzulänglich. Es fehlten häufig Kontrollgruppen und belastbare Vergleichswerte, vor allem aber eine kritische Distanz zu den eigenen Thesen. Was schließlich überhaupt nicht in das Bild eines fortschrittsgläubigen Wissenschaftlers passt: Er nahm an Séancen teil und wollte über ein Medium mit seiner verstorbenen Mutter gesprochen haben.

Lombroso war ein Kind seiner Zeit und ein Getriebener seiner Idee. Ein Grenzgänger zwischen Aufklärung und Aberglaube, zwischen Fortschrittseifer und Vorurteilen. Er starb 1909 in Turin und wurde dort bestattet.

Giuseppe Villellas Schädel ist bis heute im Museo di Antropologia Criminale Cesare Lombroso in Turin ausgestellt.

Seit dem Jahr 2010 fordern süditalienische Initiativen, unter anderem der Bürgermeister von Villellas Heimatort Motta Santa Lucia sowie der Verein Comitato No Lombroso die Rückgabe und Bestattung des Schädels. Die Präsentation im Turiner Museum sei menschenunwürdig, rassistisch und ein Relikt pseudowissenschaftlicher Diskriminierung gegen Süditaliener. Villella sei kein Exponat, sondern ein Mensch – und habe, wie jeder andere, das Recht auf eine würdige Ruhe.

Ein Gericht in Lamezia Terme gab ihnen zunächst recht. Im Mai 2017 hob die Berufungsinstanz das Urteil jedoch auf. Der Schädel dürfe in der Sammlung in Turin verbleiben. Nicht zur Verherrlichung obsoleter Lehren, sondern als Zeugnis einer wissenschaftlichen Vergangenheit, an die kritisch erinnert werden müsse. Auch eine falsche Theorie gehöre eben zur Geschichte der Wissenschaft.


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